Wenn man in Europa in ein chinesisches Restaurant geht, ja, zu einem von denen, mit zwei riesigen goldenen Löwen vor dem Eingang, wünscht man sich, dieser drahtige, quirlige Mensch in der Küche, hätte vor Dienstantritt ein bisschen in Tim Raues neuem Kochbuch „Tim Raue – My Favorite Things“ herumgeblättert. Dann hätte er vielleicht etwas von dessen Faszination für das echte asiatische Verständnis von Essen mitbekommen und würde die Gerichte auf seiner Speisekarte viel besser zubereiten und sie nicht einfach durchnummerieren.
Leider ist das ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen wird, und so bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: entweder wir machen auf dem Absatz kehrt, sparen noch ein bisschen, und besuchen Tim Raue in seinem Restaurant in Berlin-Kreuzberg (Rudi-Dutschke-Straße 26) selber. Oder wir besorgen uns dieses tolle neue Kochbuch „My Favorite Things“ von ihm, schmökern stundenlang darin herum, und bereiten uns schließlich etwas daraus zu.
Wenn der Verlag Collection Rolf Heyne ein neues Buch ins Haus schickt, das im Laden 75 Euro kostet, hat man eine gewisse Erwartungshaltung. Man denkt gleich an den gigantischen Band von Sven Elverfeld oder an das ebenfalls großfarmatige Buch von Christian Jürgens. Der Band von Tim Raue ist dagegen, zumindest vom Format her (18×24 cm), deutlich kleiner ausgefallen. Dafür steckt das in grünes Leinen gebundene Buch mit seinen reich bebilderten 560 Seiten in einem modernen Schuber.
Die „Favorite Things“, die man erwartet, sind zunächst Lieblingsgegenstände, zu denen Tim Raue jeweils ein paar Worte erklärt und persönliches von sich preisgibt. So kann man ihn mehrmals in der Woche im KaDeWe treffen und wir wissen nun auch, dass er sich einmal jährlich ein Paar Schuhe in England machen lässt.
Am Ende des Buches gibt es Statements, die uns Einblicke in seine Philosophie geben, dazwischen finden wir über hundert außergewöhnliche, asiatisch inspirierte Rezeptkreationen, die trotz genialer Kochkunst und Präsentation stets puristisch wirken.
Wie sehr Tim Raues Kochkunst, trotz klassischer, französischer Ausbildung, von asiatischer Küche durchdrungen ist, bemerkt man schon im Inhaltsverzeichnis am Anfang des Buches. Um nur ein paar Gerichte zu nennen: Wasabi-Baiser, Schweinebauch Sichuan, Dim Sum mit Abalonen, Japanische Kastanie mit weißem Trüffel, Ha Gau, Fish Maw in Buddhas Sud.
Tim Raue hat zwar eine besondere Beziehung zu Hongkong, wo er schon gekocht hat, aber selbstverständlich ist trotzdem nicht alles Asien. Der 1974 in Berlin geborene Tim Raue hat sich eine ganz eigene kulinarische Linie auf den einzelnen Stationen seines Lebenslaufes erarbeitet. Diese führten ihn unter anderem vom »44« im Swissôtel am Berliner Kurfürstendamm (1 Michelin-Stern und 18 Punkten im Gault-Millau), über das Adlon, in dem er ab 2008 als Kulinarischer Direktor der Adlon-Collection tätig war, bis zum Adlon-Palais, in dem er die Restaurants »Ma Tim Raue« (chinesisch inspirierte Küche) und das »Uma« (japanisch inspiriert) sowie die »Shochu Bar« eröffnete.
Schon 2007 kürte ihn der Gault-Millau zum Koch des Jahres, für das »Ma Tim Raue« erntete er nur wenige Monate später einen Michelin-Stern. Der Gault Millau zeichnete das »Ma Tim Raue« mit 18 Punkten, und das »Uma« mit 17 Punkten aus. Seit September 2010 führt Raue gemeinsam mit seiner Frau in Berlin-Kreuzberg das Restaurant »Tim Raue«. Im Jahr 2012 wurde er vom Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet, im Jahr 2013 kam ein zweiter Stern hinzu.
Ein Kochbuch für Spezialisten
Blättert man sich durch sein Kochbuch „Tim Raue – My Favorite Things“, so fällt zunächst die klare Struktur ins Auge, die von den Vorspeisen über die speziellen Kategorien Dim Sum und Meer Spezial, zu Fisch, Fleisch, Geflügel, Gemüse bis zu Käse und Dessert reicht.
Fast jedes Gericht – oder besser jede Kreation – wird auf etwa vier Buchseiten vorgestellt, wobei die Anweisungen für den hungrigen Hobbykoch teilweise recht minimalistisch sind. Angaben zu zahlreichen Grundrezepten findet man im Anhang, dem nur leider ein richtiges Register fehlt. Will man sich an ein Rezept von Tim Raue wagen, gibt es einige Hürden zu nehmen. Denn die verwendeten Zutaten gibt es nicht an jeder Ecke. Das Rindfleisch kommt schon mal aus dem Baskenland und das Schweinekinn stammt natürlich vom Iberico. Dazu exotische Soßen und Gewürze, an die man nur über den Spezialversand kommen kann.
Aber es gibt auch reichlich Nachkochbares in dem Band. Mein Exemplar ist schon gespickt mit kleinen Markern, die an Rezepten kleben, die so oder ähnlich auf den Tisch kommen werden. Dazu gehört die vollendete Spargel-Kreation mit Miso und Radieschen, die gepökelte Kalbszunge süß-sauer mit Essiggurke und Wasabidressing und sehr reizvoll finde ich den Schweinebauch Dong Po, der aber eine echte Herausforderung bei der Beschaffung der Zutaten darstellt.
Bedacht werden müssen vom Käufer des Buches auch die verwendeten Verfahren in der modernen Küche. Da wird vakuumiert was das Zeug hält und die exakte Temperaturangabe von 85 Grad, bei der Fleisch an mancher Stelle für 12 Stunden gegart werden soll, hat nichts mit Braten oder Kochen zu tun, wie wir es vielleicht noch von unseren Müttern gelernt haben. Ein ungeübter Laie läuft schon Gefahr, am fehlenden Equipment in seiner Küche an den gestellten Aufgaben zu scheitern.
Die Personengruppe, für die „Tim Raue – My Favorite Things“ gemacht ist, kann man zusammenfassend als absolut fachkundig und hochambitioniert bezeichnen. Es wäre ja auch lächerlich, wenn jeder nach dem durchlesen des Buches auf der Ebene eines Meisters seines Faches, wie Tim Raue einer ist, erfolgreich herumköcheln würde.
Die tollen Fotos von Luzia Ellert fangen die demonstrierte Kochkunst perfekt ein, wirken im Druck aber doch seltsam flach und wenig brillant, was sicher am verwendeten, verhältnismäßig dünnen Papier liegt. Zu kritisieren gäbe es daneben noch den empfindlichen Leineneinband, der auf dem ebenfalls viel zu dünnen Umschlagkarton aufgebracht wurde. Das Cover des Buches verzieht sich schon bei leichtesten Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit, auch wenn es sich in seinem Schuber wieder auf seine ursprüngliche Form besinnen kann.
TIM RAUE
My Favorite Things. Berlin & Hongkong
Verlag: Collection Rolf Heyne
560 Seiten
EURO 75,00
Ich habe bis morgen noch den „Vorgänger“ da (Aromen(re)volution). Zwei Gerichte versucht nachzukochen und gern mehr probiert, aber an vielerlei „Methoden“ gescheitert. Auf 6,6m² ist der Möglichkietsrahmen leider begrenzt. Aber ich bin sehr gespannt, auf deine Experimente!